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Ein Tag beim Team Gazprom-Rusvelo

Die 2. Etappe der Deutschland-Tour 2021 aus Sicht eines Fans

Als Radsport-Fan habe ich schon einiges erlebt, aber ein Rennen oder eine Etappe im Teamwagen des sportlichen Leiters, das noch nicht. Die 2. Etappe der Deutschland Tour 2021 durfte ich im Mannschaftswagen des Team Gazprom-Rusvelo erleben. Ein Hammer.

Als ich Mitte August angeboten bekam, die Chance erhielt, die 2. Etappe hautnah zu erleben, habe ich natürlich nicht gezögert. Die Deutschland Tour wollte ich ohnehin komplett begleiten, an einen Tag im Mannschaftswagen mit dem sportlichen Leiter Dmitri Konychev, selbst früher ein Weltklasse-Profi, hatte ich nicht zu hoffen gewagt.

Die Teams waren bei der Deutschland Tour unterschiedlich aufgestellt. Einige Top-Teams fuhren um den Gesamtsieg mit, andere Mannschaften nutzten die 4 Etappen, um junge Fahrer aufzubauen, um sie ein Rennen gegen Spitzenfahrer der großen World-Tour Team bestreiten zu lassen.

Zu diesen Mannschaften gehört auch Gazprom-Rusvelo, ein Continental Pro Team, dass sich zur Aufgabe gemacht hat, junge Rennfahrer aus verschiedenen Ländern aufzubauen und ihnen so die Möglichkeit zu geben, in Kürze selber zu den Top-Fahrern zu gehören. Ein gutes Beispiel dafür ist Artem Nych, der bereits viele gute Platzierungen erreicht hat, aber dieses Jahr mit dem Titel des russischen Meisters 2021 alles bisherige toppen konnte.

Jedes Team trat mit 6 Fahrern an. Für Gazprom-Rusvelo waren das die drei Russen Igor Boev, Petr Rikunov und Evgeny Shalunov, die beiden jungen  Norweger Fredrik Dversnes und Eirik Lunder, sowie der schnelle Italiener Marco Canola, der bereits auf der ersten Etappe von Stralsund, nach Schwerin einen hervorragenden 9. Platz belegen konnte. Ein guter Auftakt, über den sich auch die sportlichen Leiter Dmitri Konychev und Evgeny Popov freuten. Nach der Etappe, stand noch ein Transfer von rund 400 Kilometern auf dem Plan. Das Leben eines Radprofis ist schon anstrengend.

Die zweite Etappe führte in Thürigen von Sangershausen nach Ilmenau. 180,60 Kilometer bei teils sehr starkem Regen, niedrigen Temperaturen und viel Wind. Ich war froh, dass ich im Auto sitzen durfte.

Mein erster Kontakt zum Team war Juri, der beim Team für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig war. Ein richtig netter Kerl, der zu meinem Glück etwas Deutsch konnte. Mein Englisch war ziemlich eigerostet, da war das eine große Hilfe. Das Team beäugte mich Anfangs etwas reserviert, war aber dennoch freundlich. Ich konnte das gut verstehen, da hat man ein perfekt aufeinander abgestimmtes Team und dann bekommt man plötzlich einen total Fremden ins Auto gesetzt, von dem man nichts weiß.

Das änderte sich jedoch wenig später als Marcel Wüst vorbeikam. Er und Dmitri Konychev kennen sich aktiven Zeiten noch sehr gut und Marcel sprach gegenüber Dmitri positiv von mir.
Wie läuft so ein Rennen im Teamauto ab. Vermutlich recht gemütlich, so ein Auto ist ja nun mal schneller als ein Radsportler und muss vielleicht mal ein Laufrad wechseln oder eine Trinkflasche aus dem Fenster reichen. Soweit die Theorie.

Die Wirklichkeit sieht anders aus, ganz anders. Doch von Anfang an. Das wird nicht einfach heute. Die Fahrer kommen von der Einschreibung zurück, die Mechaniker schauen ein letztes Mal auf die Rennmaschinen. Die Radrennfahrer fahren zur Startlinie, Wind/Regenjacke an oder aus? Ganz klar an. Ein schöner Arbeitsplatz sieht anders aus.

Die Teamwagen vom Team rollen los. Zwei Wagen des Team Gazprom-Rusvelo fahren zur Verpflegung auf die Strecke, der Team Bus wird in ein paar Minuten zum Ziel in Ilmenau fahren und die Fahrer dort erwarten.

Dmitri reiht sich in die anderen Teamwagen ein. Die Reihenfolge wird durch den Stand in der Teamwertung bestimmt, wir habe die Nummer 10. Die Aufkleber auf den Materialwagen habe ich schon oft gesehen, aber heute verstehe ich erst richtig, wie wichtig diese Aufkleber während des Rennens sind.

Während alle auf den Start warten, prüft Dmitri die Funkverbindung. Fahrer, übrige Teamfahrzeuge, Radio Tour, das sieht im ersten Moment sehr verwirrend aus, doch Dmitri hat alles im Griff. Den schlechtesten Platz im Wagen hat der Mechaniker auf dem Rücksitz. Mehrere Laufräder, ein offener Werkzeugkasten, dazu jede Menge Trinkflaschen und Verpflegung, die über Dmitri an die Renners aus dem Fenster angereicht werden. Die beiden kennen sich gut, meist taucht links neben mir eine Trinkflasche auf, noch bevor Dmitri danach fragt.

Es geht los, die ersten Kilometer sind neutralisiert, doch es wird schon unruhig. Regenjacke an, Regenjacke aus, wie die Profis bei 40 km/h Regen und starkem Wind auf den Rädern Kleidung wechseln hat schon was. Sorry liebe Jedermänner, aber das hier haben die wenigsten von euch drauf. Darum sind es ja Profis. Da müssen Unterschiede sein.

Aber nicht nur auf den Rädern sitzen Profis, auch in den Materialwagen. Ich bezeichne mich nicht als schlechten Autofahrer, aber ich glaube manchmal an den Lenkrädern der Mannschaftswagen sitzen Wesen mit 8 Armen und 20 Augen. Teilweise mehrere Wagen nebeneinander, dazwischen noch Fahrer die durch Defekte zurückgefallen sind und nun wieder ins Feld wollen. Plötzlich wieder lautes hupen, ein anderes Team signalisiert, dass es zu einem Fahrer nach vorne muss.

Eine Legende unter den Fotografen. Hennes Roth.

Auch Fahrer, die von hinten wieder zum Hauptfeld nach vorne fahren, muss man immer im Auge haben. Dabei unterstützen die Teamleiter alle Fahrer, es wird durch lautes hupen signalisiert, dass die vorderen Autos aufpassen müssen, weil sich ein Rennfahrer nähert.

Jeder Defekt, jeder Sturz und jede Rennentwicklung werden über Radio Tour an alle Teamleiter weitergegeben. Die Materialwagen mischen sich mehr und mehr, die einen fahren nach vorne um zu helfen und fallen dann nach ganz hinten, weil natürlich die anderen Wagen an ihnen vorbeifahren, während sie einen Defekt beheben, danach sortiert man sich wieder an der richtigen Position ein und richtet sich dabei nach den Nummern auf den Aufklebern auf der Heckscheibe. Dazwischen immer wieder Profis. Hier ist richtig Leben drin.

Dann passiert es, ein Massensturz. Über Radio Tour werden die betroffenen Teams unterrichtet, auch Team Gazprom-Rusvelo ist betroffen. Mist – der Mechaniker springt mit zwei Laufrädern aus dem Materialwagen, plötzlich ist die Straße dicht, alle Teams wolle zu den gestürzten Fahrern.

Nach gefühlt 15, tatsächlich aber nur etwa 2 Minuten, stehen wir neben Petr Rikunov, der gerade von mehreren Leuten von der Straße getragen wird. Andere Radprofis jagen dem Feld hinterher, die Materialwagen suchen sich ebenfalls einen Weg nach vorne. Zurück bleiben wir mit Petr.

Hier habe ich übrigens aus Respekt vor den gestürzten Fahrern die Kamera weggelegt. Petr Rikunov wird mehrere Minuten behandelt, in der Zwischenzeit macht unser Mechaniker das Ersatzrad fertig. Dmitri sieht besorgt aus, es hat Petr schlimm erwischt. Dennoch setzt Petr sich einige Zeit auf das Ersatzrad, beißt die Zähne zusammen und jagt dem Feld hinterher. Was für ein Tier…im positiven Sinne. Hier kommt mir alter Spruch in den Sinn, ich glaube es war Gerrie Knetemann, der sagte:  Wenn ein Fußballer fällt, schreit er nach seiner Mama, ein Radfahrer nach seinem Rad. Klar, jede Sekunde, die man länger liegen bleibt, entfernen sich die übrigen Profis mehr und mehr.

Rund 100 Kilometer vor sich, alleine hinter allen anderen und jeder Knochen im Leib schmerzt ungemein. Es wäre logisch, jetzt in den Krankenwagen einzusteigen, doch für Petr Rikunov kommt das nicht in Frage. Und tatsächlich, er holt erste Fahrer ein, und kommt fast wieder an das Hauptfeld heran. Doch an der nächsten Steigung fällt er wieder zurück. So geht es mehrfach und trotz aller moralischer Unterstützung wird die Lücke langsam größer.

Bergab sind die Rad-Profis schneller als die Materialwagen.
Was für ein Schmuddelwetter.

Dann kommt ein weiterer Fahrer  vom Team zurück, das müsste Fredrik Dversnes sein. Schaut im folgenden Bild mal in den Spiegel. Er wechselt tatsächlich während der Fahrt den Schuh, was hat dieser Team-Mechaniker von Gazprom-Rusvelo noch alles da hinten rumliegen? Er muss ja alles passend für jeden Rennfahrer haben. Vorher hatte er sich schon mal das Pedal angesehen, natürlich hing er dabei aus dem Fenster. Weiter vorne wird gerade Rick Zabel vom Rennarzt versorgt.

Essenszeit im Mannschaftswagen. Ich wundere mich schon gar nicht mehr, als der Mechaniker von hinten warmes Essen nach vorne reicht. Ich habe keinen großen Hunger, daher gibt mir Dmitri einen kleinen Würfel zum Probieren. Ich schmecke Kokos, Cranberrys und Reis. Sehr lecker und saftig, aber überhaupt nicht süß. Die richtige Nahrung im ersten Teil des Rennens erklärt mir Dmitri, im Finale brauchen die Fahrer dann mehr Zucker.

Einige Zeit sind die Gazprom-Rusvelo Fahrer zu zweit unterwegs, immer mehr Fahrer kommen von vorne zurück, wir haben wieder eine windige Starkregen Phase. Es geht vorbei an den Verpflegungsstellen und den Müllbereichen. Ja, bei den Radrennen wird bereits seit einigen Jahren darauf geachtet, dass die Natur durch das Fahrerfeld nicht verschmutzt wird. Es gibt zwei Bereiche, in denen die Profis ihre Taschen leeren können und den Müll auf die Straße werden.  Diese Bereiche werden später gereinigt. Wer an anderer Stelle etwas wegwirft, wird mit hohen Geldstrafen bestraft.

Da wo keine Zuschauer stehen, steht der Toilettengang auf dem Plan. Aber immer auf den Wind achten
Im TV sieht alles so leicht aus. Aber um die Bilder einzufangen, leistet der Kameramann einiges.

Irgendwann kommt Petr nicht mehr mit, er muss lockerlassen und wird am Ende der Etappe mit DNF registriert. Did no finisch, hart für ihn, doch spätere Untersuchungen ergeben Verletzungen, die eine Weiterfahrt unmöglich machen. Für mehrere Profis, die in den Sturz verwickelt waren, endet die Deutschland Tour heute in Ilmenau.

Dmitri Konychev blieb ruhig, stimmte die Mannschaftstaktik auf die neue Situation ab. Fredrik Dversnes versuchte noch sich um einige Plätze zu verbessern, doch Dmitri stoppte ihn. Zwei Minuten Rückstand mehr oder weniger, machten keinen großen Unterschied, immerhin folgten noch zwei Etappen und jetzt Kräfte zu sparen macht mehr Sinn und wird auf der vierten Etappe auch belohnt.

Trinken to go.
Auch an den Verpflegungsstationen muss man ein gutes Auge haben und konzentriert arbeiten.
Danke Juri, du rundest das Team ab.

Die jungen Fahrer aufbauen, nicht verheizen. Lieber mal einen größeren Rückstand hinnehmen, statt zu früh alle Körner zu verschießen. Dmitri Konychev hat meiner Meinung nach, das richtige Fingerspitzengefühl und dieses Team zu führen und aufzubauen.

Vorne läuft inzwischen das Finale, wo Marco Canola zwar mit der Spitzengruppe ankommt, aber eine weitere Top-Platzierung verpasst. Er war ein schwerer Tag für das Team Gazprom-Rusvelo. Gut 180 Kilometer bei wirklich perversem Wetter, mit einem Schnitt von über 41 km/h. Eine brutale Etappe, besonders für die jungen Fahrer im Feld.

Auch wenn heute keine Top-Platzierung heraussprang, die Leistung stimmte und von, Petr Rikunov war ich heute beeindruckt. Ich wünsche ihm gute Besserung und wie allen anderen Fahrern des Team Gazprom-Rusvelo viel Erfolg in der Zukunft.

Auf den beiden letzten Tagen gab es noch große Erfolge. Auf der 3. Etappe belegte Marco Canola im Massensprint Rang 15, auf der 4. Etappe errang er noch Rang 20. Aber viel wichtiger, Marco gewann den Bonussprint und damit 3 Sekunden Zeitgutschrift.  Das reichte, um in der Gesamtwertung auf den 8. Platz der Gesamtwertung vorzufahren. Was für ein Coup.

Auf Platz 17 platzierte sich auf der Schlussetappe Fredrik Dversnes, am Hinterrad von Nils Politt, dem Gesamtsieger der Deutschland Tour 2021. Eine klasse Leistung des jungen Norwegers.

Ich möchte mich herzlich für die Möglichkeit bedanken, die zweite Etappe der Deutschland Tour 2021 im Mannschaftswagen des Team Gazprom-Rusvelo mitzufahren. Vor dem Fernseher sieht vieles so einfach aus, aber wenn im Rennen auch nur Einer mal eine Sekunde nicht aufpasst, kann das verehrende Folgen haben. Bei Profirennen, darf man den Profi nicht auf die Aktiven beschränken. Möglich wird es nur, wenn überall Profis arbeiten.

Vielen Dank für einen spannenden Tag bei der Deutschland Tour Dmitri. Du hast ein tolles Team um dich herum.

Im kommenden Jahr wird die Deutschland Tour aufgewertet. Dann gibt es 5 Etappen. Für den Radsport in Deutschland ein gutes Zeichen. Hier wird Spitzensport geboten und für die Zuschauer ist das Rennen kostenlos. Hoffen wir, dass 2022 wieder mehr Fans an die Strecke dürfen, das wird riesig.
WS